Klasse 1 – die Welt ist schön!

„Es ist unendlich wichtig für den Menschen,dass er die Geheimnisse des Daseins in Gleichnissen empfängt, bevor sie in Form von Naturgesetzen ihm vor die Seele treten“

aus R. Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft

Eine große Freude an Bewegung, Rhythmus und Reim bringen die Schulanfänger mit.  Gedichte, Lieder und Sprüche werden rasch aufgefasst und  ganz aus dem rhythmischen Mittun auswendig gelernt. Schritte und Gesten begleiten das Sprechen. Die Nachahmungskräfte der ersten sieben Lebensjahre wirken noch stark nach und wir gehen mit ihnen um, wenn wir mit zwei Fremdsprachen beginnen, ein Musikinstrument erlernen oder das Stricken erüben. Durch diese Kräfte sind die Kinder noch innig mit ihrer menschlichen Umgebung verbunden, leben auch mit der Natur oft noch in reinem Einklang. Den meisten Kindern ist es selbstverständlich, wenn Blumen, Tiere und Steine in märchenhafter Weise miteinander sprechen und uns so ihr Wesen offenbaren. Möglichst selbst gefundene „sinnige Geschichten“  aus dem unmittelbaren Erleben des Kindes sollen bekannte Tiere, Pflanzen, Steine, … durch phantasievolles Erzählen ins Bewusstsein heben und die Kinder für ihre Umgebung aufwecken.

Liebevolles Schauen auf ihre Umwelt und eine tiefere moralische Bildhaftigkeit, die sich in den Dingen selbst ausspricht, kann so von den Kindern erlebt werden und die Liebe zur Welt wecken. In diesem Sinne lassen uns kleinere Spaziergänge den Jahreslauf der Natur erleben und auch unser Schulgarten birgt bei jedem Besuch neue Abenteuer. Der Seelenstimmung der Erstklässler entsprechen in besonderer Weise die Märchen, die im Erzählteil des Unterrichts gepflegt werden. Jedes dieser Märchen schildert einen Weg, beinhaltet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen. Märchen brauchen keine Erklärung und werden von den Kindern besser verstanden als vom Erwachsenen, da sie noch ganz in dieser Bildsprache aufgehen.

In der ersten Klasse wechseln jeweils epochenweise Formenzeichnen, Schreiben und Rechnen in der Zeit des Hauptunterrichtes ab. „Arbeitsam und lernbegierig“ begegnen mir dabei meine Erstklässler, manchmal scheint es gar nicht schnell genug voran zu gehen. Im Formenzeichnen als erste, tätige Geometrie lernen wir Formen zu erfassen, eigene Formen zu schaffen, sie im Raum zu laufen, auf dem Papier, im Sand, aus Bändern, Knete, Teig … Formen wiederzugeben. Die Gerade und die Krumme begleiten uns seit der ersten Schulstunde durch die erste Klasse. In Vielecken, Sternformen, Kreisen, Spiralen, Ellipsen … finden die durch den Zahnwechsel frei gewordenen Gestaltungskräfte ein neues Betätigungsfeld.

Beim Schreibenlernen, erst viel später auch beim Lesen, gilt immer „erst tun, dann begreifen“. Aus unserer klasseneigenen Buchstabengeschichte entstehen die großen lateinischen Buchstaben. So lässt sich z. B. nach der Erzählung aus den Wasserwellen ein W entwickeln. Wir lassen dabei den Laut in kleinen Versen erklingen und durch die Sprache, möglichst treffende Bilder und die zugehörigen Buchstaben wird das Wesen des Lautes erfahrbar. Die Vokale als Ausdruck unserer seelischen Innenwelt, z.B. das staunende „O“, wird nicht durch Bilder sondern durch die Geste, die Stimmung der erzählten Geschichte erlebbar. „Das Lesen, als weitaus intellektuellere Tätigkeit, kann dann ganz allmählich aus dem ganzen Menschen heraus wachsen.“ „Man braucht ja durchaus nicht darauf bedacht zu sein, dass das Kind in diesem ersten Jahr irgendetwas Abgeschlossenes erreicht. Das wäre sogar ganz falsch.“

Rechnen ist einfach und macht Spaß – in dieser Stimmung sollten Erstklässler ihre ersten Erfahrungen mit dem Rechnen machen. Am Anfang steht sicheres Zählen, vorwärts und rückwärts, erst bis 20, später im Zahlenraum bis 100. Das Einführen der Ziffern erfolgt nicht bildhaft wie bei den Buchstaben, soll vielmehr eine Vorstellung von der Zahlenqualität entstehen lassen. Zahlen gliedern die Welt, das Eine. So ist immer das Detail mit dem Ganzen verbunden. Rhythmisch klatschend, stampfend, klopfend… entstehen die „Reihen“ wie von selbst. Auch beim Einführen der vier Grundrechenarten gehen wir immer vom Ganzen zu den Teilen. Vom Anschaulichen und Konkreten (Murmeln, Steine …) zum Abstrakten wird auch hier jedes Kind sein eigenes Tempo finden, in dem es sich von der äußeren Anschauung löst.

Abschließend sei wenigstens kurz erwähnt, dass künstlerische Betätigung fester Bestandteil allen Unterrichtsgeschehens ist. Die Freude am Tun wird im Aquarellmalen, Plastizieren, freien bildhaften Gestalten, Singen, Flöten, kleinen szenischen Darstellungen, … vielfältig Raum finden. Die Suche und Pflege des Schönen  wird dabei das Kind veranlassen, selbst einer schönen Ausführung aller Tätigkeiten zuzustreben.