Klasse 6
Mit dem sechsten Schuljahr sind wir nun endlich richtig in der Mittelstufe angekommen. Tiefgreifende Veränderungen in den Persönlichkeiten der Heranwachsenden werfen ihre Schatten voraus. Die wunderschöne Zeit der Harmonie geht langsam aber deutlich zu Ende. Die Jungen schäumen beinahe über vor Kraft und Aktivität. Es vergeht kaum ein Tag ohne Streit oder Rangelei. Dabei ist es stets das Gleiche: Immer fing alles ganz harmlos an und war doch eigentlich nur Spaß. Ewig wieder hergebetete Belehrungen und Moralpredigten helfen wenig, die Situation zu beruhigen.
Nur mit Humor, Lockerheit und eigener Aktivität kann man als Lehrer dem Zustand Wirkungsvolles entgegensetzen. Vor allem sollte man auch bei größtem Ärger und den zahllos geopferten Nervenzellen eins nicht vergessen – aus dem gegenseitigen Anstoßen im Körperlichen wird einst die Fähigkeit zur Sozialität erwachsen. Diese kommt jedoch nicht eines Tages als Geschenk vom Himmel, sondern muss in vielfältiger Weise geübt, probiert und austoleriert werden. Wenn uns diese Weisheit im täglichen Eifer des Gefechtes wie ein Hohn, unverständlich und mitunter lächerlich vorkommen mag, so ist es doch eine Tatsache. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns als Lehrer und Erzieher beruhigt zurücklehnen dürfen (dass sich recht viel Sozialität bilden möge), ein deutliches und Ziel gerichtetes Einschreiten ist von Zeit zu Zeit dringend anzuraten.
Drei Dinge verzeihen die Schüler dem Lehrer aber sehr schwer: Ungerechtigkeit, ewige Betroffenheit und ständiges Gemecker. Ein Lehrer, besonders natürlich der Klassenlehrer, der mit dieser Altersstufe zu tun hat, sollte aber dennoch auch im größten Sturm noch das Steuer selbst in der Hand halten. Bei den Mädchen zeigen sich im Gegensatz zu ihren männlichen Mitstreitern ganz andere Erscheinungen, die aber den Lehrer manchmal nicht weniger zur Weißglut bringen können. Mädchen fühlen sich oft völlig unverstanden und immerzu ungerecht behandelt, sie neigen mehr oder weniger zu Verstimmungen, im schlimmsten Fall auch zu Depressionen. Auffallend jedoch ist die scheinbare grundlose Launenhaftigkeit. Sie reagieren oft mit einer Herabminderung ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Manche kommen plötzlich morgens nur noch schwer aus dem Bett, sie sind ständig müde und jeglicher Anstrengung wird aus dem Weg gegangen. So ist auch in manchen Familien in dieser Zeit „dicke Luft“ ein ständiger, wenn auch ungebetener Gast im trauten Heim.
Da hilft kein Jammern und kein Klagen, irgendwann geht auch diese Zeit einmal zu Ende. Aber bevor die Erwachsenen schon hörbar erleichtert aufatmen, müssen sie wissen: Das alles (und noch viel mehr) ist im Laufe dieses und der nächsten Schuljahre noch steigerungsfähig. Eine 14-jährige Schülerin schrieb über diese Zeit der Veränderungen folgendes auf:
„Merkmale: Rebellisches Verhalten gegenüber Erwachsenen (die plötzlich so ungerecht sind). An- und abflauendes Interesse an dem polaren Geschlecht. Plötzliche Unausgeglichenheit, die einen fast verrückt machen kann (himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt), und Minderwertigkeitsgefühle. Man bekommt außerdem langsam eine eigene Meinung (die von den Erwachsenen unbedingt respektiert werden sollte). Und noch was, was man Jugenddiskriminierung nennen könnte. Das heißt nicht, dass die Jugendlichen diskriminieren, sondern, dass sie diskriminiert werden (von den Erwachsenen aus Unkenntnis ihrer entwicklungsbedingten Situation/Anm. ps).“
Diesen plötzlich und auch schleichend auftretenden Erscheinungen, die zugegeben in der Gegenwart an Schärfe und Heftigkeit zugenommen haben, stehen viele pädagogisch unkundigen Zeitgenossen verbittert, schimpfend und bestenfalls noch kopfschüttelnd gegenüber. Schlimmer noch, denn nicht selten stürzen die Kinder gerade die früher am meisten geliebten und verehrten Personen zuerst von ihrem Sockel. Die Kinder sind davon selbst am stärksten betroffen, doch sie können es nicht ändern, so sehr es ihnen auch leid tut.