„Böhmische Hirtenmesse“ in Chemnitz und Prag
von Tina Mulholland
Der Schulchor der Waldorfschule Chemnitz führt die „Böhmische Hirtenmesse“ (1796)
von Jan Jakub Ryba (1765-1815) in Chemnitz und Prag auf
Ganz frisch im Jahr, unbemerkt und vor der eigentlichen Eröffnung des besonderen Jahres 2025, findet an der Waldorfschule in Chemnitz ein durchaus kulturhauptstadtreifes Projekt statt: Etwa 40 Schülerinnen und Schüler führen in Chemnitz und Prag die für tschechische Zuhörer sehr bekannte „Böhmische Hirtenmesse“ auf. Gleich dem „Weihnachtsoratorium“ von Bach wird die Weihnachtsgeschichte von der Geburt Jesu erzählt, die Hirten eilen nach Bethlehem. Ryba, ein Zeitgenosse Mozarts – bemerkenswerterweise taucht im „Sanctus“ die allen Chorsängern hierzulande vertraute Melodie des Schubertschen „heilig, heilig“ auf. Und das, wo Schubert nach Ryba lebte ... Unterstützt werden die Schüler von einem Projektorchester der Schule mit Schülern, Lehrern und Gästen. Die Klasse 6c hat Lust, als Klassenprojekt tragender Teil zu werden. Die Leitung und Einstudierung des Chores liegt bei Werner Haas, der seit Jahren den Schulchor – früher: die Chöre – führt. Den Orchesterpart führt Ekkehard Floß. Solisten sind Kollegen und Schülerinnen sowie ein Bassist aus Prag.
Eine Messe zu singen ist für Schüler nichts Normales, Gewöhnliches.
Wir wollen einen kleinen Ausschnitt aus den Proben und Aufführungen zeigen:
Donnerstagmittag Mitte November, 13 Uhr auf dem Schulhof:
Der Reisebus mit den Chorkindern schiebt sich aus dem Schultor, winkende Elternhände schauen hinterher, ehe die Familien sich auf die nächsten paar freien Tage freuen können: ohne ihre Kinder. Die sitzen derweil Stunden später frohgemut im Bus, schauen auf die Berge des Riesengebirges und wissen, dass der erlebnislockende Bauernhof am Dorfrand des tschechischen Vrchlabi sie empfängt. Die gute Seele Agnes sowie der Bauer Joachim und vielleicht hundert Kühe warten auf hungrige Sänger und Streicheleinheiten. Voriges Jahr halfen die Chorsänger, die Kühe von den Weiden ins Winterquartier einzutreiben. Auch das ist Chorlager.
Der Chorleiter bemerkt als erster, dass die sangesfreudigen kleinen Ferkel dieses Jahr keine Lust mehr aufs Singen haben. Er hatte ihnen, sehr zur Freude und zum Gelächter der Kinder, jedes Jahr ein Ständchen vorgesungen, worauf die Kleinen mit Quieken und Grunzen reagiert hatten. Dieses Jahr? Fehlanzeige. Was ist da los? Unmusikalischer Jahrgang!
30. November, Samstag, Adventssingen:
Der erste Teil, das „Gloria“, steht. Vor den interessierten Eltern erklingt zum ersten Mal ein kleines Stückchen aus dem Werk, welches sie im Januar präsentieren wollen. Die Melodie ist rhythmisch klar und gut singbar, klingt ziemlich nach Klassik und ist es eben auch. Den Eltern gefällt's wie das sich anschließende Borodin-Stück „Polowetzer Tänze“, auf Russisch in Originalsprache, womit sich die Schüler plagen, aber sie haben Russischunterricht und -lehrer, sollte kein Problem sein.
Traditionsgemäß der Abschluss mit „Carol of the bells“, dessen „Ding-dong, ding-dong“ die Eltern schon fast mitsingen.
Erstes Wochenende im Januar, 4. Januar:
Es steht noch lange nicht alles, deshalb Zusatzproben, bange Frage: Können wir das den Familien zumuten, noch in den Ferien zu proben, wo andere ausschlafen und wir singen wollen? Es geht gut. Dank der Überzeugungsarbeit des Klassenlehrers der 6c, Jörg Eigler, und der Begeisterung der anderen Hälfte Sänger/-innen gelingt es. Die vorsichtig erwartete Anzahl von 15 Kindern wird absolut übertroffen, es kommen 25. Die vorbereiteten Brote und der Kuchen reichen gerade so. Und am nächsten Tag kommen fast noch mehr.
Montag, 6. Januar:
Erster Schultag. Chorprobe früh um zehn. Die Kinder sind verschlafen, gucken mit einer Mischung aus Neugier und Müdigkeit in die Runde. Mich erstaunt ihre Ruhe und Zuversicht, die ich gerade nicht so ganz habe. Noch vier Tage, am fünften ist bereits das erste Konzert.
Die Kollegen haben die Kinder jeden Morgen für zweieinhalb Stunden für die Proben freigestellt, im Lauf der Woche für 4 Std. nachmittags, dafür danken wir unserem Schulkonzept. Mehrere Helfer/-innen der Schule unterstützen uns mit Organisation und Management.
Chorleiter sind manchmal ungemütlich, wenn der Auftritt naht. Beruhigend muss auf jedes Temperament und jeden Schüler Rücksicht genommen werden. Es muss werden und es wird auch werden. Vieles klappt schon, aber zwei der Teile gegen Ende des Stücks haben maximal die Hälfte der Schüler öfter als dreimal gesungen. Eher weniger.
Wir hoffen auf die Proben.
Nach dem ersten Durchgang wird klar: Es wird anstrengend, aber ist machbar.
Mittwoch, 8. Januar:
Wir lernen: Kinder sind es nicht mehr gewöhnt, knappe zwei Stunden – mit Pause – zu stehen. Schon nach den ersten beiden Teilen, nach 20 Minuten, jammern sie, sie könnten nicht mehr stehen. Und tatsächlich, erschöpft lassen sie sich auf die Chortreppen nieder. Ohne Trinken scheint auch nicht jeder eine Zeitstunde auszuhalten. Deshalb erlauben wir nun, dass nun doch Flaschen auf der Bühne stehen dürfen. „Aber nur in der Probe, das geht beim Auftritt nicht!“ Sie nicken und halten sich dran. Die Aufführung wird etwa 43 Minuten dauern.
Donnerstag, Generalprobe:
Viele der Kinder singen ihr erstes Mal mit einem Orchester. Sie kennen nun das Gefühl, wie eine Orgel, zwei Geigen und Celli eine herrliche Begleitmusik zum eigenen Gesang machen. Ich frage mich, was ihnen durch den Kopf geht, ob sie das spüren, was ich spürte, als ich zum ersten Mal ein Orchester erlebte: Mir war, als würde der Himmel um mich mit in die Klänge einstimmen!
Unbeschwert gehen sie mit dem Druck um, dass ab sofort nur noch sehr wenige Dinge ganz klar geübt werden können. Der Chorleiter schöpft aus seiner Erfahrung: Er probt so manches kleine Stückchen geschickt sehr detailliert, weil er weiß, dass daraus Effekte für andere Stellen entstehen.
Und überhaupt: „Herschauen, Leute! Schaut auf mich, immer herschauen! Ihr müsst sehen, wo ich die Einsätze gebe und wo ich abschlage!“
Freitag, 10. Januar, erste Aufführung.
Die Proben sind gut gelaufen, wenige Stopps und Wiederholungen an den Stellen, die unsicher waren, kein Grund zur Sorge. Trotzdem: Ob alle Übergänge klappen? Werden alle vier Stimmen ihren Ton finden, auch wenn die Tonart im nächsten Stück wechselt? Ich staune sowieso, wie Kinder, die meistenteils mit Intervallen und schnellem Ablesen von Notensystemen nicht täglich umgehen, ihre Einsatztöne finden. Natürlich haben wir das intensiv geübt, aber trotzdem: Hut ab!
Aufgehen auf die Bühne, gespannte Zuschauer, jetzt doch aufgeregte Kinder: So viele, die uns hören wollen! Der Festsaal, d. h. die Bühne in der Turnhalle, ist ziemlich voll.
Die ersten Takte laufen das Orchester und die Männersoli dem Chor voraus. Dann auf einmal der Blick zum Chor, Einsatz: „Gloria“: „Ehre sei dir Gott, du Herr der Höhen!“, nur von Sopran und Alt zu Beginn gesungen, gleich im Anschluss ein subtiles Duett von Tenor und Alt, schließlich sind alle vier Stimmen vereint. Kurze Momente, in denen man realisiert: Wow!, aber die Konzentration ist voll und ausschließlich im Dienst der Musik. Nach etwas über 43 Minuten ist das Stück geschafft.
Man kann es nicht glauben, es hat geklappt! Jubelnder Beifall, Eltern kommen zu uns und sind teilweise fassungslos, was ihre Kinder geleistet haben. Bei uns in der Schule ist Chor für jeden offen, es geht nicht nach Stimme oder Leistung, aber es zählt schon der Einsatz für die Gemeinschaft.
Unser tschechischer Initiator und Organisator Karel hat den Kindern vor der nächsten Aufführung gesagt: „Mit jedem Auftritt bereitet ihr euch auf den am Sonntag vor, eure Messe in der Weltstadt Prag!“ – seiner Heimatstadt. Nun fiebern sie dem Sonntag in Prag entgegen. Aber erstmal Nummer zwei, morgen. Immer an unserer Seite Tina Moulholland, die die Kamera schwenkt. Und Karel Dolista selbst ist der wichtige Mann an der Orgel, ohne ihn läuft nichts.
„Klappe – die zweite!“ folgt schon am nächsten Morgen 11 Uhr in der Holzkirche auf dem Kassberg. Verschlafen, aber durch die frühe Wintersonne im Gemüt erfrischt, kommen die Kinder wieder. Und wer hätte geglaubt, so viele Gäste!
Höhepunkt soll nun Prag werden, am nächsten Tag. Früh geht es los, eigentlich sehr arg früh für einen Sonntag, aber die Freude lässt die Kinder alles vergessen. Leider haben wir wenig Zeit nach unserer mittäglichen Ankunft in Prag und es ist furchtbar kalt und zugig, so dass wir froh sind, in die Kirche zu kommen. Drei, vier tschechische Sänger, von Karel herangeholt, unterstützen vor allem die Männerstimmen und den Alt. Die Elftklässler freuen sich, endlich ist jemand mit ihnen, sie wachsen über sich hinaus und sind heute mal gut zu hören. Schade, dass kein Tenor da ist, denn unsere Sechst- und Siebtklässler sind noch keine echten und müssen arg in die Tiefe gehen. Brummen. Aber fragt man sie, geht's und sie fühlen sich einigermaßen wohl.
In der Kirche haben sie gleich recht noch nie gesungen. Es macht ihnen Spaß, der Nachhall im Klang beflügelt sie.
Das „Agnus Dei“ geht über in den überschäumenden Schlusschor: „Freuet euch, frohlocket, singet Lieder, und fröhlich musiziert!“ Unsere Sopransolistinnen, Schülerinnen der Oberstufe, sind einfach toll gewesen. Man merkt, dass sie seit der ersten Klasse in der richtigen Tonhöhe vorgesungen bekamen. Eine Schülerin mit einer wunderbaren natürlichen Stimme, die andere mit Gesangsunterricht. Beide stehen sicher auf der Bühne und sind verlässlich und stolz, ähnlich wie die drei Instrumentalistinnen, die mit Geige und Cello viel Verantwortung tragen. Dreizehnmal klingen Glockenrufe, der Sopran muss sich strecken, dreizehnmal g-e, am Ende das erlösende „In Ewigkeit, Amen!“
Stille. Der Dirigent senkt nach einer Weile die Arme.
Eigentlich höre ich den Beifall gar nicht, aber wahrscheinlich bin ich nur gerade abwesend.
Die Schüler haben in diesem Vierteljahr ganz, ganz viel für ihr Leben gelernt.
Mal sehen, wer von ihnen später zu einem Chor findet und weiß, was er da Gutes für sich entdeckt hat.
Sylvia Haas